ÖSTERREICH JOURNAL NR. 214 / 06. 05. 2025Innenpolitik / 80 Jahre Zweite Republik122Foto: Carina Karlovits / HBFFestredner Sir Christopher Clarksenden Spannungen unter den Großmächten,sondern die schwindende Solidarität unterbefreundeten Staaten. Und hier darf mannicht vergessen, daß vor 1914 das mangelndeVertrauen unter Verbündeten genauso underheblich zum Ausbruch des Ersten Weltkriegesbeigetragen hat wie der Argwohn unddas Misstrauen zwischen den verfeindetenBündnisblöcken.1991 erschien ein Essay des französischenSoziologen Bruno Latour unter deminteressanten Titel „Wir sind nie modern ge -wesen“ („Nous n'avons jamais été modernes“).Darin stellte Latour die These auf, dieModerne sei als Mythos des unaufhaltbarenFortschritts nicht mehr brauchbar. Die Zeitwäre gekommen, uns von ihr zu verabschieden.Als ich das Buch zuerst las, fand ich dieThese überzogen. Aber mit der Zeit hat siefür mich an Plausibilität gewonnen. Dennwir befinden uns in der Tat am Ende dessen,was wir einst Moderne nannten.Was hinter uns liegt, ist die Epoche derdrastisch beschleunigten Industrialisierung,der Start in ein nachhaltiges demographischesund wirtschaftliches Wachstum, durchdie Entstehung der Nationalstaaten, durchWohlfahrtsstaaten, durch materielle Sättigung(jedenfalls im Westen), durch den Aufstiegder großen Zeitungen und die Entstehungdes nationalen Rundfunk- und Fernsehnetzesund natürlich auch durch die grossenVolksparteien, die gleichsam Anker wa -ren und Bezugssystem für kollektive Identitätenboten. Diese Moderne war mehr als eineAnsammlung von Institutionen, sie schufgleichzeitig ihre eigene Art der Mythologie,eine Geschichte, die wir uns selbst erzählenkonnten, ein Mittel, uns in der Zeit zu verorten,zu verstehen, wo wir herkommen und wowir hinstreben.Prozeß des WandelsDer in den 60er-Jahren des 20. Jahrhundertsmodisch werdenden Modernisierungstheoriezufolge waren wir alle in einem Prozeßdes Wandels gleichsam verfangen. DieModernisierungstheoretiker stellten sich dieGegenwart als eine Bündelung von Vektorenvor. Modern zu werden hieß, immer demokra -tischer zu werden; eine vollkommenereChancengleichheit herzustellen; den Sieg derKernfamilie über die verzweigten Verwandtschaftsnetzwerkeder Vormoderne zu verkünden;bedeutete Säkularisierung; Bürokratisierung;Verabsolutierung des Rechtsstaatesals Befreiung von den persönlichen Machtverhältnissendes Ancien Régime. Und eshieß Mediatisierung: In der Welt des altenEuropas hatte man angeblich seine Informationenvon Freunden und Bekannten, oderauch von Fremden, aber immer von Personen,vom Mund ins Ohr erhalten; in der Mo -derne geschah die Verbreitung von Informationenzunehmend über einflußreiche Me -dienkanäle – Gerüchtemacher wichen ausgebildetenJournalisten.Einflußreiche Me dienkanäleDiese Moderne zerbröselt vor unserenAugen. Das nationale Rundfunk-, FernsehoderZeitungspublikum, die Partei als Ankerund Bezugssystem für Identitäten, dasWachstum als Axiom unserer Existenz – dasalles gibt es bald nicht mehr. Das modernepolitische System in Österreich, wie in Europaund den Vereinigten Staaten, befindet sichin einem Zustand der Verflüssigung. Eineschwache und formlose Mitte wird von linksund rechts in die Defensive gedrängt, wobeioft unklar ist, welche Ideen und Forderungenzu den Rechten und welche zu den Linkenzu rechnen sind.In ihren Details variierten die Bilder vonLand zu Land und über verschiedene politischeund soziale Milieus hinweg, aber es gabim Zeitalter der Moderne eine grundlegendeGeschichte, eine „große Erzählung“ (Jean-François Lyotard), ein Meisternarrativ, dasden meisten Menschen im westlichen poli -tischen Mainstream plausibel schien. Es wareine Geschichte über den zunehmendenWohlstand, der mit wirtschaftlichem Wachs -tum verbunden war, über technischen undnaturwissenschaftlichen Fortschritt; überdie Universalität der Menschenrechte unddie unverzichtbaren Vorzüge eines spezifischenliberaldemokratischen Gesellschaftsmodells.Entwicklungsnarrativ tröstetuns nicht mehr so wie früher.Dieses Entwicklungsnarrativ – die Weltgeschichteals Bildungsroman – tröstet unsnicht mehr so wie früher. Das Wirtschaftswachstumin seiner modernen Form hat sichals ökologisch katastrophal erwiesen. DerKapitalismus hat viel von seinem Charismaeingebüßt; er gilt heute sogar (wenn wirThomas Piketty und anderen Kritikern folgen)als eine Gefahr für den sozialen Zu sam -menhalt. Und dazu kommt noch, das Ganzeüberspannend wie ein drohendes Sturmge-»Österreich Journal« – https://kiosk.oesterreichjournal.at
ÖSTERREICH JOURNAL NR. 214 / 06. 05. 2025Innenpolitik / 80 Jahre Zweite Republik123witter: der Klimawandel, eine Bedrohung,die nicht nur den Charakter der Zukunft inFrage stellt, sondern die Befürchtung nahelegt,es werde vielleicht gar keine Zukunftgeben. Die vielgestaltige Qualität der zeitgenössischenPolitik, Aufruhr und Veränderungohne festes Gefühl für die Fahrtrichtung,sorgt für enorme Unsicherheit.Diese Unsicherheit wird insbesondereseit der Corona-Pandemie durch den Zusam -menbruch des Vertrauens in das Fachwissender Wissenschaft und damit auch in dieGlaubwürdigkeit der Behörden und ihrerVertreter, und durch die drastisch gewachseneSkepsis gegenüber den alten Medien vertieft.Hier könnte man sogar von einer Um -kehrung des von der Modernisierungstheoriepostulierten Prozesses der Mediatisierungsprechen, da die Klatschmäuler desInternets die Informationsinitiative an sichgerissen und die Experten und Berufs- undFachjournalisten hinter sich gelassen ha -ben. Die sich daraus ergebende Fragmentierungdes Wissens und der Meinungen wirdzum Teil durch das Wesen der neuen Kommunikationsmittelselbst bedingt, durch un -seren Umgang mit ihnen, zum Teil aber auchdurch gezielte Manipulierung der Netzwerke,durch ihre absichtliche Polarisierung,vor angetrieben.Krise pas siert nicht nur vor unserenAugen, sondern in unseren Köpfen.Damit haben wir den Punkt erreicht, wowir sagen können: Die Krise unserer Zeit pas -siert nicht nur vor unseren Augen, sondern inunseren Köpfen. Von den Websites undNewsfeeds tönen die Kampfworte und TalkingPoints der „Terribles Simplificateurs“,die uns in dieses oder jenes Lager hetzenwollen. Das ruhige Nachdenken ist niemalsso schwierig gewesen. Aber gerade das stilleNachdenken, pragmatisch und ergebnisoffen,ist das, was uns heute so dringend nottut.Umgang mit dem NeutralitätsbegriffAls Mitglied der EU ist Österreich verfassungsrechtlichder Wertegemeinschaft derEu ropäischen Union verpflichtet. Wie dieseVerpflichtung unter dem Druck des russischenAngriffskrieges in der Ukraine mit derimmerwährenden Neutralität des Landes inEinklang gebracht werden kann, steht nochoffen. Man ist bisher recht flexibel mit demNeutralitätsbegriff umgegangen. Je mehr derAngriff auf die Ukraine sich als Vorstoß ge -gen Europa und seine liberaldemokratischeGesellschaftsordnung überhaupt entpuppt,desto mehr wird der Druck auf die Entscheidungsträgerwachsen.Als der Schwedenkönig Gustavus Adolphus1631 mitten im Dreißigjährigen Kriegmit einer großen Armee nach Berlin kam,fragte er den Kurfürsten von Brandenburgnach seinen Intentionen. Der Kurfürst sagte,er habe vor, neutral zu bleiben. „Neutral?“,fragte der König. „Ich will von diesem Wortnichts hören. Es geht um einen Kampf zwischenGott und dem Teufel.“ Es gibt natürlichin der wirklichen Welt, in der Welt, diewir bewohnen, keine Kriege zwischen Gottund dem Teufel, und die Optionen sind im -mer zahlreicher, als die Mächtigen zugebenwollen.Die klügsten Antworten auf die dornigenFragen, die die Geschichte uns stellt, sindniemals absolut, sondern immer partiell undsituationsbedingt gewesen. Aber jedes Prinziphat seine Grenzen. Gerade heute mehrensich die Indizien, daß uns eine Entscheidungzwischen der pluralistischen, rechtsstaatlichenDemokratie und einer Reihe von autoritärenAlternativen bevorsteht, von der„illiberalen Demokratie“ bis hin zur offenenGewalt- und Willkürherrschaft. In dieser existentiellenFrage sind wir – so hoffe ich – indiesem Saal alles andere als neutral. nhttps://www.bundespraesident.at/https://de.wikipedia.org/wiki/Christopher_ClarkQuelle: PräsidentschaftskanzleiFoto: Parlamentsdirektion/ Thomas TopfFestakt mit Bundespräsident Alexander Van der Bellen, Nationalratspräsident Walter Rosenkranz, Regierungsmitgliedern und Ehrengästen»Österreich Journal« – https://kiosk.oesterreichjournal.at
Ausgabe Nr. 214 • 6. Mai 2025Das
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Foto: BMEIA / Michael GruberÖSTERR
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