ÖSTERREICH JOURNAL NR. 203 / 04. 07. 2022 Österreich, Europa und die Welt 100 Befehl des Kaisers nach Wien zurückzukehren und setzte die Expedition auf eigenes Risiko und mit eigenen Mitteln fort. Auf insgesamt zehn Reisen erkundete er die Gebiete um São Paulo und Rio de Janeiro, drang aber auch in die Amazonas-Region vor. Dabei arbeitete er keineswegs als allein reisender Forscher, sondern nutzte jederzeit freien Zu - tritt. Das Brasilianum wurde zu einer Hauptattraktion in Wien, bestand aber nur bis 1836. Danach wurden die Objekte in die Naturalienkabinette zurückgebracht, wo ein Teil 1848 beim Brand der Hofburg vernichtet wurde. Die unversehrt gebliebenen Ob - jekte befinden sich heute im NHM Wien und im Weltmuseum. Profi im Sammeln Johann Natterer sandte im Lauf der Jahre eine Unzahl von Objekten und Präparaten nach Wien: allein über 1000 Säugetiere, mehr als 12.000 Vögel und fast 33.000 Insekten. Dazu kamen an Naturobjekten noch Fische, Amphibien, Krebstiere, Muscheln und Schnecken, Würmer, Eier, Samen, Mineralien etc. Geschickt nutzte er seine Kontakte zu brasilianischen Helfern und sicherte sich die Hilfe von österreichischen Diplomaten ge nauso wie von brasilianischen und britischen Kaufleuten. Außerdem konnte er nach 1831 auf die Unterstützung seiner brasilianischen Frau Maria do Rego bauen. Von der Medizin zur Botanik Der studierte Mediziner Johann Emanuel Pohl (1782–1834) war 1817 bis 1821 Mitglied der österreichischen Brasilien-Expedition. Ab 1818 war er für die botanischen Auf - sammlungen verantwortlich und übermittelte zehntausende botanische Belege nach Wien. Nach seiner Rückkehr 1821 war er bis zu seinem Tod am Brasilianum tätig. Die Re - sultate seiner brasilianischen Sammeltätigkeit verarbeitete Pohl in dem Werk „Plantarum Brasiliae hucusque ineditarum icones et descriptiones“, seine Reiseeindrücke in „Rei - se im Innern von Brasilien in den Jahren 1827–31“. Weggenommen? Bewegte Sammlungsvergangenheit Mehr als 150.000 Objekte gelangten im Zuge der Brasilien-Expedition ab 1817 nach Wien. Viele waren im Brasilianum in der Jo - hannesgasse zu bestaunen. Nach dessen Schließung wurden sie in der Hofburg untergebracht. Als 1848 das Dach der Hofbibliothek in Brand geschossen wurde, wurden ne - ben einem großen Teil der Insekten- und Foto: NHM / APA-Fotoservice / Tanzer Bei der Eröffnung der Ausstellung am 8. Juni (v.l.): Christian Bräuchler (Leiter der Botanischen Abteilung, NHM Wien), Jürgen Meindl (Leiter der Sektion Kunst und Kultur, Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport), Katrin Vohland (Generaldirektorin und wissenschaftliche Geschäftsführerin, NHM Wien), Botschafter Nelson Antonio Tabajara de Oliveira (Brasilianische Botschaft in Wien), Prof. Sabine Eggers (Kuratorin der Anthropologischen Abteilung, NHM Wien), Botschafter Marcus Bergmann (Stv. Leiter der Sektion Internationale Kulturangelegenheiten, Bundes ministerium für europäische und internationale Angelegenheiten) und Martin Krenn (Leiter des Archivs für Wissenschaftsgeschichte, NHM Wien) Wirbeltiersammlungen auch viele unersetzliche wissenschaftliche Aufzeichnungen vernichtet. Über 30.000 Pflanzenbelege – vor allem von Johann Pohl – sowie wesentliche Teile der Sammlung Johann Natterers blieben verschont und gingen 1889 an das neu eröffnete Naturhistorische Hofmuseum am Ring. In den 1920er Jahren wurden die ethnographischen Objekte in das 1928 eröffnete heutige Weltmuseum Wien übersiedelt. Die Sammlungen des NHM Wien wuchsen weiter. Aus allen Teilen der Welt kamen Tiere, Pflanzen, Mineralien und Gesteine hinzu. Was damals aus wissenschaftlichen oder wirtschaftlichen Interessen voller Stolz ge - sammelt wurde, wird heute allerdings aufgrund von teilweise kolonialen und ausbeuterischen Kontexten kritischer gesehen. Global Scientific Commons Die Objekte – in zunehmendem Ausmaß auch die Digitalisate – stehen der globalen Forschungscommunity seit jeher offen zur Verfügung. Wichtige Forschungsthemen sind die Beschreibung der biologischen Vielfalt, Erfassung ihrer räumlichen Verteilung und Veränderung und darauf basierend ihr langfristiger Schutz. Außerdem stellen die objektassoziierten Daten eine Basis für vielfältige systemische Forschungsansätze, wie zur nachhaltigen Ressourcennutzung oder zum Verständnis von Ökosystemfunktionen. Ein bahnbrechendes Pilotprojekt war REFLORA. Gefördert und initiiert von brasilianischer »Österreich Journal« – https://kiosk.oesterreichjournal.at Seite haben über 900 Forschende aus aller Welt Millionen von Herbarbelegen digitalisiert und zusätzlich in einem Online Portal eine aktuelle Übersicht der Pflanzenwelt Bra - siliens gegeben. Für Österreich leistete die Botanische Ab - teilung des NHM Wien mit geschätzt mehr als 60.000 Herbarbelegen aus Brasilien (ge - trocknete, gepreßte Pflanzen auf Papierbögen montiert und mit Namen und Sammelinformationen versehen), von denen bisher 40.000 digitalisiert wurden, als auch mit Fachexpertise einen wesentlichen Beitrag. Perfekt im Umgang mit Ressourcen Schon vor ca. 17.500, vielleicht sogar be - reits vor 27.000 Jahren wurde Amerika von Menschen aus verschiedenen Regionen der Welt besiedelt. Jahrtausende vor der Kolonisierung durch die Europäer konnten sie als relativ kleine und isolierte Gruppen im Einklang mit ihrem Lebensraum existieren. Mit Kreativität und technischem Geschick ge - stalteten sie ihre Umwelt und verbesserten durch Anbau von Nutzpflanzen und Haltung von Nutztieren ihre Lebensbedingungen. Heu te gibt es ca. 900.000 Indigene in Brasilien, die 300 unterschiedlichen ethnischen Grup pen angehören und über 150 verschiedene Sprachen sprechen. Ihr Umgang mit Ressourcen hat eine jahrtausendealte Ge - schichte. Ihre Traditionen sind ein wesentlicher Schlüsselfaktor für die Bewahrung der Naturräume in Brasilien.
ÖSTERREICH JOURNAL NR. 203 / 04. 07. 2022 Österreich, Europa und die Welt 101 © NHM Wien »Rio de Janeiro«, Robert Russ (um 1883). Das Bild zeigt die von tropischer Vegetation umrahmte Hauptstadt des Kaisertums Brasilien und ist im Saal 18 des NHM Wien zu sehen. Anlass für die Wahl dieses Bildthemas waren sicherlich die umfangreichen Sammlungen, die durch die »Leopoldina-Expedition« ans Museum kamen. Inspiriert wurde Robert Russ von den Aquarellen, die der Expeditionsmaler Thomas Ender auf dieser Reise angefertigt hatte. (Anm.: das Bild ist rechts leicht angeschnitten) Ausgebeutet? Nach der Eroberung Brasiliens durch die Portugiesen im Jahr 1500 führte der Reichtum an Naturschätzen mehrere Jahrhunderte lang zu extremer Ausbeutung – ohne Rück - sicht auf Naturkreislaufe oder Überleben und Kultur der indigenen Bevölkerung. Der Anbau von Zuckerrohr, Baumwolle, Tabak und Kaffee, aber auch die Goldgewinnung basierten vom Ende des 16. bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf Sklaverei. Die Gewinnung des begehrten Brasilholzes hatte bereits im 16. Jahrhundert die Vernichtung großer Waldgebiete an der Atlantikküste zur Folge. Riesige Landflächen wurden dort von portugiesischen Landbesitzern nach Gutdünken genutzt, um die Er - schließung ins Landesinnere voranzutreiben. Sie ließen zu nächst Zuckerrohr, im 18. Jahrhundert zu nehmend Baumwolle und im 19. Jahrhundert Kaffee anpflanzen. Zusätzlich baute man im Gebiet des heutigen Minas Gerais Gold und Edelsteine ab. In der Amazonasregion wurde aus dem Milchsaft der Kautschukbäume Kautschuk zur Gummi-Erzeugung gewonnen. Heute zählen Gewinnung von Energie und Bodenschätzen, Anbau von Soja und Schaffung riesiger Weideflächen zur Rinderzucht zu den Hauptursachen für die Zerstörung intakter Naturräume. Das Naturhistorische Museum Wien Eröffnet im Jahr 1889, ist das NHM Wien mit etwa 30 Millionen Sammlungsobjekten und mehr als 841.800 BesucherInnen im Jahr 2019 (vor Covid19) eines der bedeutendsten naturwissenschaftlichen Museen der Welt. Seine frühesten Sammlungen sind über 250 Jahre alt, berühmte und einzigartige Exponate, etwa die 29.500 Jahre alte Venus von Willendorf, die vor über 200 Jahren ausgestorbene Stellersche Seekuh, riesige Saurierskelette sowie die weltweit größte und älteste Meteoritenschausammlung und die anthropologische und prähistorische Dauerausstellung zählen zu den Höhepunkten eines Rundganges durch 39 Schausäle. Das Deck 50 als neuer Ort für Wissenschaftskommunikation ist ein Experimentier-Raum, der einlädt, Zusammenhänge zwischen Forschung und aktuellen Themen der Gesellschaft spielerisch zu erkunden. Er erlaubt inspirierende Einblicke in die Welt der Wissenschaften. In den Forschungsabteilungen des Naturhistorischen Museums Wien betreiben rund 60 WissenschaftlerInnen aktuelle Grundlagen - forschung in den verschiedenen Gebieten der Erd-, Bio- und Humanwissenschaften. Da - mit ist das Museum wichtiges Kompetenzzentrum für öffentliche Fragen und eine der größten außeruniversitären Forschungsinstitutionen Österreichs. Mission und Vision Das NHM Wien bewahrt, erweitert, be - forscht und präsentiert seine umfangreichen biologischen, erdwissenschaftlichen, anthropologischen und archäologischen Sammlungen in einem als Gesamtkunstwerk angelegten Gebäude. Es vermittelt die Vielfalt der Na tur, die Evolution des Planeten Erde und des Lebens sowie die damit verbundene kulturelle Entwicklung des Menschen und bietet einen inspirierenden Begegnungsort, an dem Dialog und Austausch zwischen Wissenschaft und Gesellschaft stattfinden. Ziel des NHM Wien ist es, einen signifikanten Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung in Österreich, Europa und der Welt zu leisten. Das will man durch exzellente di - sziplinäre, interdisziplinäre und partizipative Forschung, durch die digitale Öffnung unserer Sammlungen, durch innovative, in lusive und inspirierende Ansätze der Wissenschaftskommunikation und durch Umsetzung eines CO 2-neutralen Museums bis 2030 er - reichen. Das NHM Wien ist mit dem Österreichischen Umweltzeichen zertifiziert und Teil des Projekts „17x17 – 17 Museen, 17 SDGs: Ziele für nachhaltige Entwicklung der UN“. Eine Initiative von ICOM Österreich in Ko operation mit dem Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlicher Dienst und Sport. n https://www.nhm-wien.ac.at/ »Österreich Journal« – https://kiosk.oesterreichjournal.at
Ausg. Nr. 203 • 4. Juli 2022 Das
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Foto: Parlamentsdirektion / Johanne
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Foto: Infineon ÖSTERREICH JOURNAL
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