Foto: Parlamentsdirektion / Johannes Zinner ÖSTERREICH JOURNAL NR. 197 / 12. 02. 2021 Kickl warnt vor demokratiepolitischer Schieflage als Folge der Corona-Pandemie Kompromiß und Konsens seien genauso wertvolle Zutaten einer lebendigen Demokratie wie Konfrontation und Konflikt, steht für FPÖ-Klubobmann Herbert Kickl fest, Klubobmann Herbert Kickl (FPÖ) der auch kritische Worte zur aktuellen Entwicklung fand. Das Parlament sei in der Corona-Krise zu einer Art vulnerablem Risikopatienten geworden, den es nun zu schützen gelte. Kickl warnte vor Verweigerung von Kontrolle und Transparenz, verfassungswidrigen Gesetzen und Verordnungen und der Zurückdrängung von Grund- und Freiheitsrechten und mahnte, die Demokratie gerate in eine Schieflage, wenn die Regierung das Parlament zur bloßen „Werkbank“ degradiere. Freiheit und Eigenständigkeit gelte es aber auch nach außen zu bewahren, Selbstbestimmung dürfe nicht durch die normative Kraft des Faktischen ausgehöhlt werden, bemerkte er mit Blick auf das Verhältnis Österreichs zur EU. Foto: Parlamentsdirektion / Johannes Zinner Foto: Parlamentsdirektion / Johannes Zinner Innenpolitik Maurer will demokratische Teilhabe im Parlament verbreitern Demokratie sei keine Selbstverständlichkeit, sie müsse gelebt und immer wieder er - kämpft werden, bekräftigte Grünen-Klubobfrau Sigrid Maurer. Das Erstreiten von Kompromissen müsse dabei aber auch außerhalb des Parlaments stattfinden, etwa in der Schule und in der Zivilgesellschaft. Der 75. Jahrestag der Konstituierung von Nationalrat und Bundesrat sollten nun Ansporn sein, die demokratische Teilhabe weiter zu verbreitern. Maurer ortet in diesem Sinn vor allem Handlungsbedarf beim Anteil von Frauen, aber auch von Menschen mit Migrationsbiographie und Menschen mit Behinderung im Parlament. Meinl-Reisinger: Demokratie braucht Widerspruch und Debatte Beate Meinl-Reisinger sieht die aktuelle Pandemie als Herausforderung und „Zumutung“ für die Demokratie. Angesichts von Klubobfrau Sigrid Maurer (GRÜNE) massiven Eingriffen in Grund- und Freiheitsrechte sei die Kontrolle der Regierung als Kernaufgabe des Parlaments wichtiger denn je, unterstrich sie und warnte, die Einhaltung der Verfassung, die Beachtung von Gesetzen und Verordnungen dürften kein Luxus aus nor malen Zeiten sein. Demokratie brauche Klubobfrau Beate Meinl-Reisinger (NEOS) 56 ge rade in schwierigen Zeiten Widerspruch und Debatte. Nur im gemeinsamen Ringen um die besten Lösungen sei die Demokratie lebendig, lautet das Credo Meinl-Reisingers. Die Festrede unter dem Titel „Die Würde des Hauses – Leiden und Größe der parlamentarischen Demokratie“ hielt Konrad Paul Liessmann, Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien. Der Festredner setzte sich mit grundlegenden Ideen der repräsentativen Demokratie auseinander und warf die Frage auf, wie sie angesichts fundamentaler gesellschaftlicher, sozialer, technologischer und po - litischer Veränderungen eine zeitgemäße Form erhalten können. Der Rolle der Länderkammer des Parlaments widmete das Bundesratspräsidium, ver treten durch Andrea Eder-Gitschthaler, Elisabeth Grossmann und Christian Buchmann, ein gemeinsames Statement. In seinen Schlußworten betonte Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka die Herausforderungen, welche die Digitalisierung für den demokratischen Diskurs darstellt. Konrad Paul Liessmann: Im Hohen Haus artikuliert sich das Gemeinsame In den Mittelpunkt seiner Festrede stellte Liessmann die grundlegenden Prinzipien des Parlamentarismus und der repräsentativen De mokratie. Er fragte dabei auch danach, wie sie zeitgemäß interpretiert werden können. Die Erinnerung an die konstituierenden Sitzungen von National- und Bundesrat am 19. Dezember 1945 und an die Rückkehr Ös - terreichs zu parlamentarischen Institutionen sind für Liessmann ein berechtigter Anlaß, mit Stolz und Genugtuung auf die Etablierung funktionierender demokratischer Einrichtungen zurückzublicken. Für ihn bietet dieses Datum dabei auch Gelegenheit, dar - über nachzudenken, ob die Form der Demokratie, die sich seit 1945 in Österreich durchsetzen konnte, angesichts fundamentaler ge - sellschaftlicher, sozialer, technologischer und politischer Veränderungsprozesse in Be - drängnis und eine Krise gerate müsse. Liessmann verwies auf die historische Ent wicklung der westlichen Demokratien und ihrer Instrumentarien. Laut ihm entstanden sie, um die Ansprüche feudaler Herrscher ein - zuschränken und zu kontrollieren. Aus dieser grundsätzlich defensiven Haltung ergibt sich für Liessmann, daß vor allem das Gespräch, die abwägende Besinnung, das deliberative Element das Wesen des Parlaments ausmachen, nicht der Streit oder gar der physische Kampf. »Österreich Journal« – http://www.oesterreichjournal.at
ÖSTERREICH JOURNAL NR. 197 / 12. 02. 2021 Österreich, Europa und die Welt 57 Foto: Parlamentsdirektion / Johannes Zinner Prof. Konrad Paul Liessmann „Im Parlament realisiert sich eine diskursive Vernunft, die sich als Verwalterin der allgemeinen Interessen und des Interesses des Allgemeinen versteht“, unterstrich Liess - mann. „Darin liegt meines Erachtens auch die Würde des mit Recht so genannten Ho - hen Hauses: Daß es eben keine Arena ist, in der die Machtansprüche partikularer Interessen auf halbwegs zivilisierte Weise ausgefochten werden, sondern ein Raum, in dem das Ganze einer Gemeinschaft, das, was die - se im Innersten zusammenhält, sich artikulie - ren kann.“ Allerdings müsse das Reden zum Handeln führen. Der parlamentarische Apparat sei allerdings strukturell entscheidungsverzögernd und machtblockierend, nicht von sich aus aktiv und entscheidungsfreudig. Für Liess mann gilt es zu fragen, ob dieser grundsätzliche Vorteil in Krisenzeiten, wie etwa während der gegenwärtigen Pandemie, in de - nen rasche Entscheidungen getroffen werden müssen, nicht kontraproduktiv wird. Liessmann sieht hier ein veritables Dilemma parlamentarischer Demokratien. Entscheidungen der Regierung ohne Zustimmung des Parlaments würden als Abgleiten in autoritäre Ver - hältnisse gelten, werde das Parlament jedoch beigezogen und verzettle sich in kleinliche Debatten, gelte es als gefährlicher Bremser in einer bedrohlichen Situation. Die Ereignisse des letzten Jahres zeigen für Liessmann al - lerdings auch, daß moderne Demokratien mit komplexen parlamentarischen Verfahren sehr wohl in der Lage sind, rasche Entscheidungen zu legitimieren, ohne ihre Prinzipien zu verraten und den Boden der Rechtsstaatlichkeit zu verlassen. Der klassische Parlamentarismus gerate auch aus anderen Gründen unter Druck, stell - te Liessmann fest. Der soziale Wandel und in weiterer Folge ein radikaler Wandel der politischen Öffentlichkeit und der Parteienlandschaft sei zu beobachten. Die Idee der repräsentativen Demokratie besagte laut Liessmann einst, daß, weil alle Menschen gleich seien, sie daher von Abgeordneten in einem Parlament repräsentiert werden könnten. Da - hinter stehe die Auffassung, daß Menschen bei allen individuellen Unterschieden in den politisch entscheidenden Belangen als Bürger gleich seien. Laut Liessmann wurzelt die - se Idee in einem Universalismus, den insbesondere Immanuel Kant prägnant formuliert hat. Die menschliche Vernunft, und nur die - se, erlaube es nämlich, „sich an die Stelle eines jeden anderen denken zu können“. Für Liessmann besteht „die Würde und Größe eines Parlaments [...] in der täglichen Einlösung dieses Anspruchs. In einem Parlament spricht keiner nur für sich oder seinesgleichen, sondern immer auch für den Anderen.“ Für Liessmann beginnt „das Leiden“ der Demokratie allerdings dort, wo diese moderne Auffassung der Repräsentation auf eine prämoderne Auffassung der Mitbestimmung trifft, die sich an ständischen oder anderen partikularen Ordnungen orientiert und den Universalismus konterkariert, ergänzt oder er - setzt. Die Idee der wechselseitigen Repräsen - tation werde so zur Vorstellung, daß ein Parlament alle Identitäten und Interessen im Sin - ne eines repräsentativen Querschnitts versammeln und angemessen berücksichtigen solle. Damit würden Geschlecht, die Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Sprachgemeinschaft oder Minderheit, die sexuelle Orientierung oder das momentane Lebensalter zu entscheidenden Kriterien. Eine Konsequenz sei der Ruf nach einer allgemeinen Quotierung der repräsentativen Organe und die Vorstellung, daß das ideale Parlament in seiner Zusammensetzung ge - nau die Besonderheiten des vertretenen Volkes widerspiegeln soll. Zwar stärke die heute forcierte Identitätspolitik völlig zu Recht eth - nische, soziale und andere Minderheiten. Sie beschleunige aber auch die Fragmentierung der Gesellschaft, gab Liessmann zu bedenken. Die Verständigung über das allen Ge - meinsame werde damit zunehmend schwieriger. Die rasante Entwicklung der Medien und der Telekommunikation, die Digitalisierung hat für Liessmann ebenfalls Auswirkungen auf die Möglichkeiten und Formen der De - mokratie. Der abwägend-argumentative Dis - kurs verschiebe sich in Richtung kurzlebiger Affekte und Skandale, stellte er fest. Auf der anderen Seite entstehen neue Kommunikationsmöglichkeiten und mediale Netze, die gekoppelt an die Macht globaler Konzerne, kaum einer politischen Kontrolle unterliegen würden. Für Liessmann besteht die reale Mög lichkeit, daß die Demokratie so „zu einer permanenten Talk-Show mutiert“ und Politik entweder unmöglich werde oder an einem anderen, nicht mehr einsehbaren Ort stattfindet. Auf der anderen Seite entstehen laut Liessmann mit den sozialen Medien neue Formen von Macht in Form von Zugriffsmöglichkeiten auf digitalisierte Informationen, die einen eigenen virtuellen Raum er - zeugen. „Wo jeder in seiner Blase lebt, hat die Idee, daß irgendwo doch die Interessen aller vertreten sein sollten, hat die Vorstellung einer gemeinsamen politischen Öffentlichkeit keinen Platz mehr“, merkte Liessmann an. Er sehe es daher als wenig verwunderlich an, wenn angesichts dieser Entwikklung die These des britischen Soziologen Colin Crouch, wonach die Gesellschaft auf eine Postdemokratie zusteuere, die nur den Schein von Demokratie und Parlamentarismus noch aufrechterhalte, Furore macht. Die Frage, wie man angesichts dessen die parlamentarische Demokratie, die politische Partizipation und die Verbindung der Abgeordneten zu denen, die sie repräsentieren sol - len, stärken könne, stellt sich für Liessmann auch angesichts des Auftreten von Bürgerinitiativen, sozialen Bewegungen und Non- Governmental Organisations (NGOs). Liessmann verwies hier auf ein in der politischen Philosophie diskutiertes, aus seiner Sicht fas - zinierendes Konzept. Dieses greife auf die Geburtsstunde der Demokratie im antiken Athen zurück, wo ein Großteil der politischen Repräsentanten und Funktionsträger nicht ge - wählt, sondern durch einen Losentscheid er - mittelt wurde. Die These sei, daß der Zufall tendenziell demokratischer sei als ein von In teressensgruppen beeinflußter Wahlprozeß. Der Ruf danach, über eine Ergänzung des Systems der Wahl durch ein Zufallselement nachzudenken, werde heute von verschiedenen Seiten erhoben. In einer Demokratie sollten tatsächlich alle BürgerInnen die Chance haben, das Ge - meinwesen entscheidend zu beeinflussen, so Liessmann. Von einem System, welches Wah - len und Losentscheidungen kombiniert, er - warte man sich, daß es der Forderung der an - gemessenen Repräsentation besser entspricht und politische Probleme wie Korruption, Ab - »Österreich Journal« – http://www.oesterreichjournal.at
Ausg. Nr. 197 • 12. Februar 2021
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