ÖSTERREICH JOURNAL NR. 197 / 12. 02. 2021 Innenpolitik 54 in der direkten Tradition jener Menschen, die im Dezember 1945 Österreich als parlamentarische Republik wiederbegründet haben. Dies belege ein Blick in die Regierungserklä - rung, die Bundeskanzler Leopold Figl unter dem Eindruck der „Verseuchung der österreichischen Jugend durch das Erziehungssystem des Nationalsozialismus“ in der zweiten Sitzung des Nationalrats am 21. Dezember 1945 abgegeben hat: „Hier darf kein Mit - tel unversucht bleiben, um die neue Jugend mit gesamteuropäischem, demokratischem Ge dankengut zu erfüllen.“ Daß dieses Ziel erreicht worden sei, bilde noch mehr als der wirtschaftliche Erfolg den Kern der Erfolgsgeschichte der Republik Österreich, resümier - te Nationalratspräsident Sobotka. Bures: Krisenzeiten erfordern Zusammenarbeit über Parteigrenzen hinweg Von „einer Stunde Null der Demokratie“ sprach die Zweite Nationalratspräsidentin Do ris Bures, da die ersten Anfänge einer de - mokratischen Entwicklung in Österreich von zwei Faschismen und dem Weltkrieg blutig beendet wurden. Österreich und seine Menschen fanden sich 1945 nicht nur in einem materiellen, sondern auch in einem moralischen Trümmerhaufen wieder. Daß damals die Gründungsväter der Republik jene Politiker waren, die zuvor der Verfolgung des Nazi- Regimes ausgesetzt waren, führte zu einem wirklich demokratischen Neubeginn, war Bu - res überzeugt. Der politische Mitbewerber wurde nicht mehr nur als Feind gesehen und die Zusammenarbeit über Parteigrenzen hinweg als Chance für einen zügigen und erfolgreichen Wiederaufbaus erkannt. Diese Kultur legte den Grundstein für das Wirtschaftswunder und bildete die Basis für einen sozialen Frieden, der durch einen effizienten So - zialstaat untermauert wurde. Die Erfahrungen von Massenarbeitslosigkeit und dem blutigen Aufstieg des Faschis - mus prägten viele PolitikerInnen der damaligen Zeit, hob Bures hervor, unter anderem auch Bruno Kreisky. Er kam zu der fundamentalen Überzeugung, daß eine nachhaltige demokratische Entwicklung nur auf Basis eines sozialen Friedens möglich sei. Es müs - se eine Republik für alle ÖsterreicherInnen sein, zu der sich alle bekennen können. Deshalb war die Reformpolitik der Zweiten Re - publik auch davon geprägt, wirtschaftlichen Wohlstand, soziale Stabilität und gesellschaftlichen Fortschritt miteinander zu verknüpfen. Vor allem wurde damit ein neues Kapitel für die Frauen, für die sich durch die Foto: Parlamentsdirektion / Johannes Zinner Zweite Nationalratspräsidentin Doris Bures (SPÖ) zahlreichen Reformen im Justiz- und Bildungsbereich neue Perspektiven eröffnet ha - ben, aufgeschlagen. Diese gesetzgeberische Dynamik gelte es auch heute kontinuierlich weiterzuentwickeln, unterstrich die Zweite Nationalratspräsidentin. Gleichzeitig müsse drohenden Rückschritten entschlossen entgegengetreten werden. Als der Nationalrat am 19. Dezember 1945 zu seiner konstituierenden Sitzung zusammengetreten ist, waren le - diglich 9 seiner 165 Mitglieder Frauen. Dies habe einem Anteil von nur 5,5 Prozent entsprochen. Nachdem der Frauenanteil in den gesetzgebenden Organen zunächst 25 Jahre lang auf dem Niveau von 1945 verblieben und erst ab den 1970er-Jahren allmählich angestiegen sei, liege er heute immerhin bei 39,3 Prozent. Dies sei nach Ansicht von Bu - res vor allem den vielen Frauen zu verdanken, die in ihren Parteien einen entsprechenden Druck – auch über Quotenregelungen – gemacht haben. Die Erfolgsstory der Republik Österreich liege begründet in dem Willen zum Dialog und zur Zusammenarbeit, konstatierte Bures, wobei die Sozialpartnerschaft ein Ausdruck dafür sei. Gerade in Krisenzeiten wie einer Pandemie sei nicht nur die Einbindung des Parlaments, sondern auch der Sozialpartner sowie der Zivilgesellschaft unabdingbar. Nur wenn die mitunter restriktiven und weitreichenden Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie auf eine breite Basis gestellt werden, seien deren Rechtssicherheit und Ak - zeptanz gewährleistet. Aus der Geschichte Ös terreichs könne man lernen, daß Krisen immer dann erfolgreich bewältigt wurden, wenn über Parteigrenzen und persönliche Eitelkeiten hinweg die Zusammenarbeit »Österreich Journal« – http://www.oesterreichjournal.at gesucht und im Interesse des Landes auch ge - funden wurde. Das Parlament als Motor der gesellschaftlichen Entwicklung habe in den vergangenen 75 Jahren immer entscheidende Impulse gesetzt. Das werde das Parlament auch heute, in diesen schwierigen Zeiten, mit aller Kraft tun, zeigte sich die Zweite Nationalratspräsidentin zuversichtlich. Hofer streicht wichtige Rolle der Opposition heraus und setzt auf verstärkte Bürgerbeteiligung Für den Dritten Nationalratspräsidenten Norbert Hofer manifestiert sich die Erfolgsgeschichte der österreichischen parlamentarischen Demokratie zum einen in der Entwicklung einer offenen parlamentarischen Dis kurskultur und zum anderen in der effektiveren Gestaltung der parlamentarischen Kontrollrechte. Das Parlament spiegle – re - präsentiert durch die VertreterInnen der Wahl - parteien – die wesentlichen Interessen und Po sitionen der Gesellschaft wider. Wichtig er scheine es ihm dabei, daß die Willensbildung, wie schon Hans Kelsen hervorgehoben hat, nicht als Diktatur der jeweiligen parlamentarischen Mehrheit verstanden werde, sondern daß Kompromißbildung im Vordergrund stehe. Dies sei auch in der Rede des am 19. Dezember 1945 zum National rats prä - sidenten gewählten Abgeordneten Leopold Kunschak zum Ausdruck gekommen. Daß die Parteien im Parlament jeweils ihr eigenes Programm haben und entschlossen sind, es zu verwirklichen, sei nicht nur ihr gutes Recht, sondern sogar ihre Pflicht, sagte Kunschak. Gleichzeitig stünden die Mitglieder des Parlaments zusammen und stellten ihre Parteiinteressen zurück, weil sie „alle mit-
ÖSTERREICH JOURNAL NR. 197 / 12. 02. 2021 Innenpolitik 55 einander die Pflicht empfinden, dem Volke und dem Vaterlande zu dienen“. Leopold Kun schak habe damit den Wesenskern des Parlamentarismus umrissen: den offen, aber respektvoll geführten Diskurs über unterschiedliche politische Positionen, verbunden mit der Bereitschaft zum Kompromiß beziehungsweise zur Anerkennung der Mehrheitsentscheidung. Im Verlauf der vergangenen 75 Jahre ha - be sich nicht nur die Zahl der im Parlament vertretenen Parteien vermehrt, sondern es sei auch die Offenheit für unterschiedliche Konstellationen koalitionärer Zusammenarbeit ge - wachsen, urteilte Hofer. Es sei immer deutli - cher geworden, wie wichtig die Existenz einer starken parlamentarischen Opposition für einen lebendigen Parlamentarismus sei. In Anerkennung dieser Realität habe die Entwicklung des parlamentarischen Geschäftsordnungsrechts in den vergangenen 75 Jahren immer weitere Kontrollbefugnisse in die Verfügungsgewalt parlamentarischer Minoritäten übertragen, bis hin zur Ermöglichung der Einsetzung eines parlamentarischen Un - tersuchungsausschusses aufgrund eines Min - derheitsverlangens; dieses Recht bestehe seit Beginn des Jahres 2015. Außerdem sei das Parlament durch seine verbesserte Präsenz in den elektronischen Medien und durch die Nutzung neuer medialer Instrumente transparenter geworden. Anders als vor 75 Jahren können die Bürgerinnen und Bürger heute mit Hilfe der neuen Medien unmittelbar An - teil an legislativen Vorhaben und Prozessen nehmen und sich somit sowohl direkt als auch über die Abgeordneten ihres Vertrauens in diese Prozesse einbringen. Die Bevölkerung zu politischem Engagement auch jenseits der Beteiligung an den Wahlen zu den allgemeinen Vertretungskörpern einzuladen und zu ermutigen sowie die Anliegen der Bür gerInnen ernst zu nehmen, sei aus Sicht Hofers mehr denn je eine wichtige Aufgabe des Parlaments. Wöginger: Demokratie bedeutet auch das Recht der Minderheit auf Mitbestimmung Für ÖVP-Klubobmann August Wöginger ist die Konstituierung von Nationalrat und Bundesrat vor 75 Jahren der Beginn einer Erfolgsgeschichte und gleichzeitig auch der Startschuß für eine lebendige parlamentarische Demokratie. Die Volkspartei habe sich 1945 als zukunftsorientierte Partei des Neuanfangs mit einem neuen Österreich-Be - kenntnis, als Partei aus der Mitte für die Mit - te der Gesellschaft verstanden. Man sei da - Foto: Parlamentsdirektion / Johannes Zinner Foto: Parlamentsdirektion / Johannes Zinner Dritter Nationalratspräsident Norbert Hofer (FPÖ) Klubobmann August Wöginger (ÖVP) mals, wie Leopold Figl bereits in der ersten Klubsitzung betont hatte, von der Überzeugung ausgegangen, daß Demokratie nicht das Vorrecht der Mehrheit, sondern auch das Recht der Minderheit auf Mitbestimmung und Mitverantwortung bedeute. Dieses Be - kenntnis zu Gemeinsamkeit gelte im Besonderen auch angesichts der aktuellen Herausforderungen, gab Wöginger zu bedenken und betonte, gerade vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie sei keine Zeit für parteitaktische Manöver. »Österreich Journal« – http://www.oesterreichjournal.at Foto: Parlamentsdirektion / Johannes Zinner Rendi-Wagner ruft zu Zusammenspiel von Regierung und Opposition in der Corona-Pandemie auf Die Erfolgsgeschichte Österreich spiegle sich auch durch ausgeglichene soziale Strukturen und eine gesicherte internationale Po - sitionierung wider, unterstrich SPÖ-Klubobfrau Pamela Rendi-Wagner. Sie sprach von einer auf die Reformen der Ära Kreisky zu - rückgehenden chancengerechten Prägung des Landes, die bis heute wirke und die es zu be - wahren gelte. In diesem Sinn müsse der Be - kämpfung der Pandemie und der daraus re - sultierenden gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen oberste Priorität eingeräumt werden. Dem Parlament komme dabei große Verantwortung zu, zumal diese Krise nur gemeinsam und im Miteinander erfolgreich bewältigt werden könne. Das Bekenntnis zum Zusammenspiel von Regierung und Parlament und Opposition sei als Lehre aus dem Dezember 1945 heute genauso aktuell wie vor 75 Jahren, mahnte Rendi-Wagner. Klubobfrau Pamela Rendi-Wagner (SPÖ)
Ausg. Nr. 197 • 12. Februar 2021
Foto: Christian Hartl-Nesic ÖSTERR
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