ÖSTERREICH JOURNAL NR. 195 / 29. 10. 2020 Novellierungen Grund- und Leitnorm sowie Fundament der freien, demokratischen Re - publik Österreich geblieben ist, ist nicht zu - letzt auch der hervorragenden fachlichen Unterstützung durch das Juristenteam Hans Kelsen, Georg Froehlich und Adolf Merkel zu danken. Der politische Kompromiß war damals auch nur möglich, weil sensible Bereiche, wie die Finanzverfassung, Fragen der Organisation der Verwaltung in den Ländern und der Kompetenzen im Schul- und Erziehungs - wesen, ausgeklammert und erst später, im Rahmen der Verfassungsnovelle 1925 geregelt wurden. Auch die Neuformulierung der Grundrechte wurde ausgespart, man griff auf das Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867 zurück. 1958 trat Österreich der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) bei, sie steht seit 1964 im Verfassungsrang. Mit dem Vertrag von Lissabon trat am 1. De - zember 2009 auch die Charta der Grundrechte der EU in Kraft. Seit einer richtungsweisenden Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes (VfGH) im Jahr 2012 sind die darin verankerten Rechte nationalen Grundrechten einschließlich der EMRK prinzipiell gleichgestellt und somit auch vor dem VfGH durchsetzbar. Das B-VG hatte eine wechselvolle Ge - schichte. So wurde es im Juli 1925 und im Dezember 1929 in wichtigen Punkten abgeändert, 1929 wurde die Rolle des Bundesprä - sidenten und der Bundesregierung gestärkt. Im Mai 1934 wurde die Bundesverfassung zur Gänze außer Kraft gesetzt und durch eine autoritäre Verfassung ersetzt. Vier Jahre später gab es unter dem Nazi-Regime überhaupt keine österreichische Verfassung mehr. Ein selbständiges Österreich konnte erst im April 1945 wieder errichtet werden. Abermals wurde das B-VG zur Grundlage der Republik und ist es bis heute – trotz zahlreicher Änderungen – geblieben. Im Jahr 2003 machte das Parlament einen Vorstoß zu einer grundlegenden Staats- und Verfassungsreform und setzte dazu den Ös - terreich-Konvent unter dem Vorsitz des ehemaligen Rechnungshofpräsidenten Franz Fiedler ein. Der Konvent tagte vom 30. Juni 2003 bis 31. Jänner 2005 und legte einen um - fassenden Bericht vor. Im Februar 2007 wur - de unter dem Vorsitz des Leiters des Verfassungsdienstes im Bundeskanzleramt, Georg Lienbacher, eine Expertengruppe beim Bun - deskanzleramt eingerichtet. Als eines der Er - gebnisse daraus wurde im Rahmen des „Demokratiepakets“ das Wahlalter auf 16 Foto: Parlamentsdirektion / Thomas Topf Foto: Parlamentsdirektion / Thomas Topf Innenpolitik Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka Bundeskanzlerin a.D. Brigitte Bierlein Jahre gesenkt, die Briefwahl eingeführt und die Legislaturperiode des Nationalrats von vier auf fünf Jahre verlängert. Auf der Grundlage der Vorschläge dieser Expertengruppe beschloss das Parlament unter anderem auch die Bereinigung des Bundesverfassungsrechts und die Neuregelung weisungsfreier Behörden. Das neue Bundeshaushaltsrecht basiert ebenso wie die Schaffung der neun Landesverwaltungsgerichte, des Bun - desverwaltungsgerichts und des Bundesfinanzgerichts auf Vorschlägen des Österreich-Konvents. Sobotka: Die Verfassung hat uns immer trefflich begleitet In seiner Rede beim Festakt stellte Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka fest, daß uns die Verfassung immer trefflich begleitet 72 habe. Das werde auch dadurch offenkundig, daß es möglich gewesen sei, mit unserer Verfassung der EU beizutreten, indem man Ho - heitsrechte abgab, gleichzeitig aber auch die Souveränität beibehalten konnte. Sobotka unterstrich die beiden Grundprinzipien, die die Verfassung prägen – den demokratischen Parlamentarismus und die Dezentralisation. Letztere sei dem Umstand gewidmet, daß Österreich aus neun Bundesländern besteht, und hier gehe es immer wieder um die Aufrechterhaltung der Balance. Als eine große Herausforderung bezeichnete Sobotka die Verrechtlichung der Digitalisierung, wobei auch Fragen des Datenschutzes und der Big Data eingeschlossen seien. Er habe keine Angst um die Demokratie, auch wenn sie immer wieder Angriffen ausgesetzt sei, meinte der Nationalratspräsident im Hinblick auf die Krisenfestigkeit der Bundesverfassung, wenngleich er Sorge in Bezug auf den politischen Umgang miteinander äußerte. Für ihn steht aber fest, daß uns das demokratische, das föderalistische und das rechtsstaatliche Prinzip der Verfassung auch in Zukunft begleiten werden. So sei das demokratische Prinzip heute eine durchgängige Grundhaltung, unterstrich er. Die Verfassung und die Institutionen sind krisenfest – der Rechtsstaat ist gut aufgestellt Epoche-machend sei die Etablierung des Verfassungsgerichtshofs mit der Bundesverfassung 1920, strich Bundeskanzlerin a.D. und VfGH-Präsidentin a.D. Brigitte Bierlein in der folgenden Podiumsdiskussion hervor. Das sogenannte österreichische System der Verfassungsgerichtsbarkeit habe sich in Eu - ropa und darüber hinaus verbreitet. Es sei die „Herzensangelegenheit“ von Hans Kelsen ge wesen und ein Kernstück der Verfassung, daß die Gesetzgebung einem spezifischen Gericht unterworfen wurde. Mit der Novelle 1929 wurde der Bundespräsident viel stärker in die Verfassung eingebunden, so Bierlein. Etwa im Hinblick auf den Umgang mit jüngsten Krisen sind aus ihrer Sicht sowohl die Verfassung als auch die Institutionen in Ös - terreich eindeutig krisenfest und der Rechtsstaat sei sehr gut aufgestellt. Auch wenn einzelne Mängel wie etwa ein fehlender, ge schlossener Grundrechtskatalog bestehen, seien diese nicht so groß, wie sie sagte. Aus dem Österreich-Konvent sei einiges umgesetzt worden, so Bierlein, etwa im Hinblick auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit. »Österreich Journal« – http://www.oesterreichjournal.at
ÖSTERREICH JOURNAL NR. 195 / 29. 10. 2020 Innenpolitik 73 Verfassungsbewußtsein bezieht sich auch auf andere Bestandteile der Verfassungsordnung Als eine Art „Spielregelverfassung“, die das politische Leben ordnet, aber selbst sehr im Hintergrund bleibt, bezeichnete Parlamentsdirektor Harald Dossi das Bundes-Verfassungsgesetz. Ein Verfassungsbewußtsein bezieht sich aus seiner Sicht auch auf andere Bestandteile der Verfassungsordnung, die we - sentlich präsenter seien als das B-VG. Insgesamt sprach er von einem „Gesamtkunstwerk der österreichischen Verfassungsordnung“. Wesentlich ist aus Sicht des Parlamentsdirektors, das Verfassungsbewußtsein zu fördern, weil damit auch die Teilhabe am politischen Leben zusammenhänge und De - mokratie von dieser Teilnahme lebe. Das zu stärken, sei eine Aufgabe von vielen, so Dos - si, sowohl für das Parlament und für die Po - litik im Allgemeinen, als auch für Medien, Schulen, Universitäten und private Initiativen. Seitens des Parlaments wies er etwa auf Demokratievermittlungsangebote wie die Demokratiewerkstatt, aber auch auf Information und Kommunikation über viele Ka - näle hin. Ähnlich wie Brigitte Bierlein zeigte er sich überzeugt, daß etwa die politische Krise 2019, aber auch die aktuelle Corona- Krise gezeigt haben, daß die Bundesverfassung auch in diesen Phasen eine sehr gute Grundlage biete, politisch zu agieren und zu arbeiten. Damit Nationalrat und Bundesrat auch in Extremsituationen immer handlungsfähig bleiben, könnte er sich eine Dis - kussion darüber vorstellen, für extreme Ausnahmesituationen die Möglichkeiten der Digitalisierung zu nutzen. Verfassungen von 1920 und 1929 als »unpolitische« Verfassungen bezeichnet Den Kompromißcharakter der Bundesverfassung hob Thomas Olechowski vom In - stitut für Rechts- und Verfassungsgeschichte der Universität Wien hervor. So seien die Verfassungen von 1920 und 1929 als „unpolitische“ Verfassungen bezeichnet worden, was er allerdings insofern für übertrieben hält, als man etwa 1920 deutlich hin zu einer Demokratie westlichen Typus gekommen sei. Auch die Rückkehr 1945 zur Verfassung in der Form von 1929 habe in einer absoluten Ausnahmesituation stattgefunden. Dieser Kompromiss sei nur möglich gewesen, weil man einen „Konsens über den Dissens“ ge - funden habe, so Olechowski. Das B-VG steht für ihn für einen Weg der Mitte zwischen extrem rechts und extrem links sowie für Werte wie Demokratie und Rechtsstaat, Foto: VfGH/Katharina Fröschl-Roßboth Foto: Parlamentsdirektion / Thomas Topf Foto: Parlamentsdirektion / Thomas Topf Parlamentsdirektor Harald Dossi Thomas Olechowsky, Geschäftsführer des Hans Kelsen-Instituts VfGH-Präsident Christoph Grabenwarter die die Freiheit des Einzelnen schützen. Der Österreich-Konvent sei an den beiden Themen Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern und Grundrechtskatalog ge - schei tert, so der Experte – ihm zufolge ebenso wie 1920 wohl nicht ohne Grund. Auch Olechowski meinte, daß wir mit der Verfassung „gut leben“. VfGH beging Jubiläum mit Symposion junger JuristInnen Die aus Anlaß des Verfassungsjubiläums geplanten Veranstaltungen des Verfassungsgerichtshofs (VfGH) mußten aufgrund der Maßnahmen gegen das Corona-Virus adaptiert werden. Bereits im Frühjahr und im Som mer 2020 hielten Experten einige Vorträge, die sich mit der Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit und mit der aktuellen Rolle des Verfassungsgerichtshofes befaß - ten. Anstelle eines offiziellen Festaktes mit den VertreterInnen aller obersten Organe und internationalen Gästen fand am 30. September und 1. Oktober ein Symposion mit dem Titel „Verfassungsgerichtsbarkeit in der Zu - kunft – Zukunft der Verfassungsgerichtsbarkeit“ statt, an dem renommierte jüngere JuristInnen Vorträge vor den Mitgliedern und Mitarbeitenden des Gerichtshofes hielten. Christoph Grabenwarter, Präsident des VfGH, würdigt das B-VG: „In der Ersten Republik war der Verfassung nur geringer Er - folg beschieden. 1933 wurden das Parlament und der Verfassungsgerichtshof ausgeschaltet. Es folgte die Katastrophe des Nationalsozialismus. Seit 1945 hat sich die Verfassung aber immer wieder bewährt. Gerade die letzten zehn Jahre haben gezeigt, daß sie ein guter Rahmen ist, um unser Gemeinwesen durch Krisen zu bringen.“ Auch wenn die offizielle Feier nicht wie geplant stattfinden konnte: „Der 1. Oktober ist ein großer Tag für die Verfassung und den VfGH. Daß aus diesem Anlaß die Zukunft der Wissenschaft über die Zukunft der Verfassungsgerichtsbarkeit nachdenkt, hätte die Schöpfer der Bundesverfassung, die vor 100 Jahren mit der Einführung einer selbständigen Verfassungsgerichtsbarkeit einen mutigen und zukunftsweisenden Schritt gesetzt haben, sicher gefreut“, ist Verfassungsrichter Michael Holoubek, der das Symposion mit konzipiert hat, überzeugt. Ausstellung am Heldenplatz zu 100 Jahre B-VG sowie Web-Ausstellung Nach den Jubiläumsschwerpunkten im Jahr 2020 zum EU-Beitritt vor 25 Jahren und zu 75 Jahre Zweite Republik thematisiert »Österreich Journal« – http://www.oesterreichjournal.at
Ausg. Nr. 195 • 29. Oktober 2020
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