ÖSTERREICH JOURNAL NR. 192 / 02. 06. 2020 Österreich, Europa und die Welt 75 Jahre Unabhängigkeit Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka im TV-Gespräch über Rückblicke und Ausblicke zur Zweiten Republik 6 Foto: Parlamentsdirektion / Thomas Topf Im Dachfoyer in der Wiener Hofburg (v.l.): Gerald Heidegger (ORF), Eva Linsinger („Profil“), Thomas Götz („Kleine Zeitung“), Ingrid Thurnher (ORF III), Andreas Koller („Salzburger Nachrichten“), Martina Salomon („Kurier) und Gastgeber Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka Am 27. April feierte die Zweite Republik den 75. Jahrestag ihrer Gründung. Na - tionalratspräsident Wolfgang Sobotka lud aus diesem Anlaß sechs JournalistInnen zu einer Diskussionsrunde unter dem Titel „75 Jahre Unabhängigkeit Österreichs im journalistischen Blickwinkel“ ins Dachfoyer in der Wiener Hofburg. Als GesprächspartnerInnen zu Gast waren Ingrid Thurnher (ORF III), Martina Salomon („Kurier“), Eva Linsinger („Profil“), Andreas Koller („Salzburger Nach - richten“), Thomas Götz („Kleine Zeitung“) sowie Gerald Heidegger (ORF online). Ge - meinsam warf man Schlaglichter auf bedeutende Ereignisse der vergangenen 75 Jahre und wagte einen Blick in die Zukunft. Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka eröffnete als Moderator das Gespräch, in dem zahlreiche Facetten des österreichischen Selbstverständnisses und der jüngeren Zeitgeschichte gestreift wurden: „75 Jahre ist es her, daß Österreich seine Unabhängigkeit ausgerufen hat. Das war kein parlamentarischer Akt, aber es haben Parlamentsparteien unterzeichnet, Staatskanzler Karl Renner war dabei federführend. Dieser Tag soll Anlaß sein zu reflektieren, was aus der Vergangenheit noch wesentlich ist für das Heute und die Zukunft.“ Sowohl Anton Wildgans als auch Erwin Ringel zitierend, konfrontierte Sobotka die JournalistInnen mit zwei gegensätzlichen Beschreibungen der „österreichischen Seele“: Zum einen „sensibel und kenntnisreich“, wie Anton Wildgans sagte, Foto: Parlamentsdirektion zum anderen „eine Brutstätte der Neurose und des Verdrängens“, wie Erwin Ringel es beschrieb. »Österreich Journal« – http://www.oesterreichjournal.at Zwischen Lethargie und Hysterie – äußerst diszipliniert Martina Salomon griff die Definition des „Österreichischen“ anhand der aktuellen Co - rona-Krise auf und zeigte sich überrascht, daß die Österreicher, zwischen Lethargie und Hysterie pendelnd, angesichts der Maßnahmen äußerst diszipliniert seien. Thomas Götz erklärte eine „Mischung aus Regelbefolgung und Bruch derselben“ als eine „österreichische Art des Umgangs“, die nicht un - sympathisch aber effizient sei. Andreas Koller konstatierte angesichts der aktuellen Ereignisse durchaus eine „Un - tertanenmentalität“, die er noch als „Rucksack“ nach 600 Jahren Habsburg vermutete – eine Feststellung, der Ingrid Thurnher beipflichtete. Koller zufolge habe sich Öster- Vor 75 Jahren, am 27. April 1945: Staatskanzler Karl Renner vor dem Parlament nach der Unterzeichnung der Unabhängigkeitserklärung durch die Parlamentsparteien
ÖSTERREICH JOURNAL NR. 192 / 02. 06. 2020 Österreich, Europa und die Welt 7 reich unter großen Mühen zweimal in der Völkergemeinschaft neu positionieren müssen, zuerst nach dem Ende der Monarchie, danach 1945 nach der Nazi-Diktatur und dem Zweiten Weltkrieg. Der Neutralitätsvertrag und der UNO-Beitritt seien prägend gewesen. Ingrid Thurnher verwies auf Österreichs langjährige internationale Position: „Neutral, aber nicht so neutral wie die Schweiz, ein bißchen bei den Deutschen, nicht beim Ostblock, aber doch mit Kontakt dorthin: In dieser Sonderrolle zwischen den Blöcken, Na - tionen und Mentalitäten haben wir eine ,Ex - trawurscht‘ gelebt und mußten stets beweisen, wie gut wir sind“, sagte die ORF-III- Chefredakteurin. Durch jene Vermittlerrolle, so Martina Sa - lomon, habe erstmals Bruno Kreisky dem Land das Selbstbewußtsein zurückgegeben. Bundeskanzler Sebastian Kurz versuche dar - an wieder anzuknüpfen. Österreich sei je - denfalls ein ganz guter diplomatischer Ort. „Das Brückenbauen als Marke für Österreich paßt gut zu unserem Charakter“, stellte Thomas Götz dazu fest. Abschied vom Opfermythos erst nach dem EU-Beitritt Österreich habe sich nach 1945 nur schwierig gefunden, so Gerald Heidegger. Vie le hätten sich noch in den 1950ern als bessere Deutsche gefühlt. Ergänzend Eva Lin singer: Gemäß Oliver Rathkolb zeichne die ÖsterreicherInnen eine Mischung aus Minderwertigkeitskomplex und Größenwahn aus. Gerne möchte man beim Sport, bei der Kultur oder im Verhältnis zur EU der Beste sein. Der Hypothese Sobotkas, ob dieses Minderwertigkeitsgefühl denn an Österreichs jahrelanger Randlage entlang des Ei - sernen Vorhangs gelegen habe, konnte Linsinger beipflichten. Zudem habe man sich als Anhängsel des als übermächtig empfundenen Deutschlands gefühlt. Erst der EU- Beitritt habe dazu beigetragen, daß Österreich sich vom Opfermythos verabschieden konnte. Nationalratspräsident Sobotka warf des Weiteren die Frage des mangelnden Verfassungspatriotismus im Vergleich zu anderen Nationen auf, was Salomon als einen „Schatten der Nachkriegszeit“ erklärte. Zumindest habe Alexander van der Bellen den Heimatbegriff in seinem Wahlkampf wieder entstaubt, sagte Thurnher, die sich ein „neues mentales Outfit“ für Österreich wünschte. Eine „neue Identität“ werde sich besonders nach der Corona-Krise zeigen, pflichtete Foto: Parlamentsdirektion / Thomas Topf Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka Eva Linsinger bei. Das Unbehagen an der Globalisierung und die internationale Vorreiterschaft zahlreicher österreichischer Unternehmen werde zu einem neuen Selbstbewußtsein führen. Das Problem mit dem Nationalbewußtsein ortete Koller auch in der Zeit nach 1945, als dieses blitzartig neu aufgebaut werden mußte. So habe man sich auf die bestehende „schöne Landschaft“, den Wiederaufbau so - wie zuletzt auf das Neutralitätsgesetz bezogen. „Letzeres war als unbelasteter Begriff ein Ding, auf das man stolz sein konnte“, erläuterte Koller. „Das Verhältnis zum eigenen Land ist entspannter geworden“, bemerkte Thomas Götz rückblickend. Linsinger ergänzte: Dies habe mit Österreichs zeitverzögerter Aufarbeitung der Geschichte zu tun, die mittlerwei - le Common Sense sei. „Damit ist auch ein entspannterer Heimatbegriff möglich. Viele Dinge sind jetzt leichter zu diskutieren.“ Sobotka: Ist Österreich in der »Normalität seiner Geschichtsbetrachtung angekommen«? In einer zweiten thematischen Klammer umriß Wolfgang Sobotka den historischen Weg der Vergangenheitsbewältigung Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg beginnend mit der Moskauer Deklaration: „Die ersten Urteile in den 1950ern, die Amnestien in den 1960ern, die Freisprüche in den 1970ern, der Fall Waldheim in den 1980ern, Vranitzky in den 1990ern – schließlich Wolfgang Schüssel mit dem Washingtoner Ab - kommen. Ist Österreich in der Normalität sei - ner Geschichtsbetrachtung angekommen?“ Martina Salomon äußerte Zweifel am Geschichtsbewusstsein des Landes und illustrierte dies anhand des durchwegs unbekannten Standorts des Staatsgründungsdenkmals im Wiener Schweizergarten. Nach Waldheim habe jedoch eine Entkrampfung eingesetzt und Österreich sei inzwischen auch extrem multikulturell geworden. Hier konnte Koller anknüpfen und nannte Passagen aus der Präambel zur Unabhängigkeitserklärung, die „eine Weißwaschung“ darstellen würden. Umgang mit jüdischen Opfern und ehemaligen Nazis Andreas Koller kritisierte die österreichische Gesellschaft nach 1945 wegen ihres Um gangs mit den jüdischen Opfern auf der einen Seite und den Ex-Nazis auf der anderen. Die Rückgabe des geraubten Eigentums an die jüdischen Eigentümer wurde teils verschleppt, „zum Teil aus Brotneid, weil man selber dieses Eigentum übernommen hatte“, sagte Koller. Eva Linsinger erinnerte daran, daß in einem Ministerratsprotokoll davon die Rede gewesen sei, Restitutionen in die Länge zu ziehen. Auf der anderen Seite habe man die Ex-Mitglieder der NSDAP in die Nachkriegsparteien aufgenommen, „weil sie als Wähler wichtig waren und teilweise gute Verwalter“, erklärte Koller. „Da ist es umso beschämender“, sagte Linsinger, „wenn man bei Nobelpreis-Verleihungen sieht, welcher Geistesreichtum Österreich mit vertriebenen jüdischen Mitbürgerinnen und -bürgern verloren gegangen ist.“ Nicht wenige NobelpreisträgerInnen haben österreichische Wurzeln und sind teils selber, teils mit ihren El - »Österreich Journal« – http://www.oesterreichjournal.at
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© Leopold Museum, Wien, Foto: Leop
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