ÖSTERREICH JOURNAL NR. 192 / 02. 06. 2020 Österreich, Europa und die Welt 4 ausgefunden hat. Als Anfang 1955 der NA - TO-Beitritt Westdeutschlands nahte, setzte Nikita Chruschtschow im internen sowjetischen Machtkampf die Zustimmung zum Staatsvertrag durch. Der Preis dafür war die österreichische Neutralität. Das Gesamtpaket ermöglichte die sowjetische Zustimmung zum Ende der Ost-West-Besetzung. Zähe Detailarbeit Da der Staatsvertrag 1947 bis 1949 in zäher Detailarbeit fast fertig verhandelt worden war, wobei vor allem amerikanische und britische Diplomaten wie Samuel Reber, Sir Ivo Mallet und später Llewellyn Thompson die österreichischen Interessen vertraten, konnte er 1955 rasch abgeschlossen werden. Die sowjetisch beschlagnahmten Wirtschaftsund Erdöl-Betriebe kamen in österreichischen Besitz, allerdings boten die Österreicher einen stark überhöhten Preis. In den folgenden Jahren empfahl die Sowjetunion die Neutralität auch anderen westlichen Staaten, um sie aus der NATO zu lösen, und nahm die österreichische Neutralität zum Anlaß, sich regelmäßig mit Lob, aber auch Kritik zur Außenpolitik Österreichs zu Wort zu melden. Dennoch: „Österreich hatte enormes Glück“, sagen die beiden Forscher. Was kann man heute aus den Verhandlungen lernen? „Daß die äußeren Umstände entscheidend sein können“, meint Mueller. „Und daß das zähe Kämp fen um Details und Formulierungen in Verträgen enorm wichtig ist“, ergänzt Stourzh. Quelle: https://www.univie.ac.at/ »Jetzt wollen wir nach vorne blicken. Und ein Bild davon entwerfen, wie unser Leben aussehen soll« Liebe Österreicherinnen und Österreicher und alle Menschen, die hier leben. Ich stehe hier vor dem Schloß Belvedere in Wien. Heute vor 65 Jahren hat sich hier ein ganz besonderes Ereignis zugetragen. Hier wurde der Staatsvertrag unterzeichnet, der „Staatsvertrag betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich“. Hier im Park jubelten tausende Menschen den Außenministern zu, die dort oben am Balkon des Belvedere standen. Ohne den Staatsvertrag wäre das Österreich von heute, das Österreich, das wir so lieben, schlicht und einfach nicht denkbar. Rede von Bundespräsident Alexander Van der Bellen Foto: https://www.onb.ac.at / Digitale Sammlung Zeitgeschichte 15. Mai 1955: Leopold Figl (6.v.l.) zeigt am Balkon des Schlosses Belvedere den Österreichischen Staatsvertrag. Ebenfalls am Balkon, rechts neben Leopold Figl stehend: Adolf Schärf, Wjatscheslaw Michailowitsch Molotow, Julius Raab (v.l.n.r.). Außerdem sind Maurice Harold Macmillan (2.v.l.), John Foster Dulles (4.v.l.) u.a. zu sehen. Meine Damen und Herren! Nur, wenn wir wissen, verstehen und akzeptieren, woher wir kommen, haben wir ein gemeinsames Fundament, auf das wir in Zukunft bauen können. Denn das alles ist Teil unserer Geschichte und damit Teil von uns. Viele von uns haben die Worte von Außenminister Leopold Figl noch im Ohr: „Österreich ist frei!“ Das sagte er, nachdem er gemeinsam mit den Vertretern der vier Besatzungsmächte – der Sowjetunion, dem Vereinigten Königreich, den USA und Frankreich – den Staatsvertrag unterschrieben hatte. Und das war der Kern der Sache: Die Freiheit und Unabhängigkeit unserer Heimat und seiner Bürgerinnen und Bürger. Endlich! Wir alle kennen die Vorgeschichte. Mit dem Einmarsch der deutschen Truppen am 12. März 1938 verschwand der Staat Österreich und wurde in das nationalsozialistische Deutsche Reich eingegliedert. Während Tausende auf dem Heldenplatz Hitler zujubelten, begannen schon die Einschüchterungen, die Verfolgungen, die Ermordungen. Es folgten Jahre der Schreckensherrschaft, der Zweite Weltkrieg, der Holocaust. Aber am 27. April 1945 wurde mit der „Unabhängigkeitserklärung“ durch Vertreter der SPÖ, ÖVP und KPÖ die Wiedergeburt Österreichs als demokratische Republik eingeläutet. Danach, nach dem erlösenden Kriegsende in Europa, war Österreich – und Wien – von 1945 bis 1955 in vier Besatzungs - zonen unterteilt. Das ist heute, vor allem für die jüngeren unter uns, nur mehr schwer vorstellbar. Aber die berühmten „Vier im Jeep“ gehörten zum Stadtbild von Wien. »Österreich Journal« – http://www.oesterreichjournal.at Das zähe Ringen um den Abzug der Alliierten dauerte viele Jahre. Auf fast jeden Fortschritt in den Verhandlungen folgte ein Rückschlag. Mit Beharrlichkeit und Ausdauer gelang es schließlich, den Staatsvertrag auszuverhandeln. Meine Damen und Herren! Heute vor 65 Jahren war der ganze Park hier vor dem Belvedere voll mit begeisterten Menschen, dicht an dicht gedrängt. Österreich war frei! Und diese Freiheit war die Grundlage einer einzigartigen Erfolgsgeschichte namens Österreich: Unser Land hat sich nach 1955 zu einem der sichersten und
ÖSTERREICH JOURNAL NR. 192 / 02. 06. 2020 Österreich, Europa und die Welt 5 Foto: Alberrt W. Hilscher / © https://www.onb.ac.at / Digitale Sammlung Zeitgeschichte Foto: Alberrt W. Hilscher / © https://www.onb.ac.at / Digitale Sammlung Zeitgeschichte Große Menschenmenge im Garten vor dem Oberen Belvedere bei der Unterzeichnung des Staatsvertrags Bundeskanzler Julius Raab, Vizekanzler Adolf Schärf und Außenminister Leopold Figl bei der Begrüßung der Außenminister der Signatarstaaten wohlhabendsten Länder der Welt entwickelt. Mit einer beeindruckenden Lebensqualität, hoher sozialer Sicherheit, einem attraktiven Wirtschaftsstandort, einer weltweit geschätz - ten Kulturszene. Ein wunderschönes, freies Land im Herzen Europas. Mit diesem Leben in Freiheit, in einer li - beralen Demokratie, müssen wir verantwortungsvoll umgehen. Wir wissen, Demokratie bedeutet, einander zu respektieren, miteinander im Ge - spräch zu bleiben. Wir wissen, wir brauchen Kompromissbereitschaft; das ist eine Tu - gend, keine Schwäche. Wir wissen, politisches Handeln braucht die kritische Begleitung durch unabhängige Medien. Wir wissen, die Rechte von Minderheiten sind zu re - spektieren und nicht per Mehrheitsentscheid zu beschneiden. Wir wissen, wir sind verantwortlich für das, was wir sagen und tun. Oder nicht tun. Wir wollen einander helfen und unterstützen. Unsere Heimat Österreich ist es wert, ge - meinsam Lösungen zu finden. Und schließlich: Der Friede ist eines der höchsten Güter, das wir bewahren wollen. Meine Damen und Herren! Diese letzte Einsicht hat Österreich dazu geführt, Teil des größten Friedensprojektes zu werden, das es in der Geschichte unseres Kontinents je gegeben hat: Der Europäischen Union. Die Teilhabe am Gemeinsamen Europa ist für Österreich eine Erfolgsgeschichte. Kulturell, wirtschaftlich, gesellschaftlich. Und ich bin überzeugt, daß der Neustart nach der Corona-Pandemie am besten zu lösen ist, indem wir unsere europäischen Stärken und Ressourcen gemeinsam, miteinander und füreinander nutzen. „Österreich ist frei.“ Es ist eine Ironie des Schicksals, daß wir gerade in diesen Tagen den Wert der Freiheit wieder eindringlich vor Augen geführt be - kommen. Wir mußten soeben am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, in den Grund - rechten massiv eingeschränkt zu sein. Von einem Tag auf den anderen. Es ist ganz schön viel verlangt worden von uns und unserer Demokratie. Aber wir haben uns freiwillig und zeitlich beschränkt dazu bereit erklärt, weil wir die Verletzlichsten in unserer Gesellschaft damit schützen wollten. Und das ist auch weitgehend gelungen. Jetzt wollen wir nach vorne blicken. Und ein Bild davon entwerfen, wie unser Leben aussehen soll. Meine Damen und Herren! Was hier im Schloß Belvedere vor 65 Jahren mit dem Staatsvertrag besiegelt wur - de, war das Ergebnis eines kollektiven Kraftakts. Wir werden auch jetzt wieder einen kollektiven Kraftakt brauchen. Um wieder in Austausch miteinander zu treten. Um aus der coronabedingten hohen Arbeitslosigkeit herauszukommen, um die Wirtschaft wieder flott zu bekommen, um unser soziales, sportliches und kulturelles Leben wieder in Gang zu setzen. Über die Bezirks-, Landes- und Staatsgrenzen hinweg. Wir müssen unsere Zukunft neu gestalten! Machen wir das gemeinsam, bauen wir gemeinsam – fair und nachhaltig – an unserer Heimat Österreich und Europa. Liebe Österreicherinnen und Österreicher und alle Menschen, die hier leben! Freiheit ist eines unserer höchsten Güter. Zugleich ist Freiheit filigran und verletzlich. Denken wir daran. Und denken wir in Dankbarkeit an die Menschen, die das Fundament errichtet haben, auf dem unsere Republik und wir heute stehen. Ich wünsche Ihnen alles Gute. Quelle: https://www.bundespraesident.at/ »Österreich Journal« – http://www.oesterreichjournal.at
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© Leopold Museum, Wien, Foto: Leop
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