ÖSTERREICH JOURNAL NR. 191 / 11. 03. 2020 Österreich, Europa und die Welt 8 Bundesratspräsident Robert Seeber Der Nationalsozialismus habe sich „in atemberaubender Geschwindigkeit“ aus einer De - mokratie heraus entwickelt und aus einem Rechtsstaat „eine industrielle Mordmaschinerie“ gemacht. Gleichzeitig sei über Landesgrenzen und Kontinente hinweg ein globaler Krieg entfacht worden. Als erschreckend wertete es Nägele, daß die jüngeren Generationen in Europa große Wissenslücken über den mörderischen Rassenwahn und die damalige Vernichtung von sechs Millionen JüdInnen hätten. Österreich stehe in diesem Sinn, was zunehmenden An - tisemitismus betrifft, nicht alleine da. Neben kritischen Worten, unter anderem zu den „Höbelts an der Uni“ und den „sogenannten Einzelfällen der FPÖ“, streute der IKG-Ge - neralsekretär dem offiziellen Österreich aber auch Rosen: Es gebe kaum ein Land in Europa, das sich in den letzten Jahren so klar ge - gen Antisemitismus gestellt habe, an vorderster Front gegen Judenhaß eintrete und so an der Seite des jüdischen Staates Israel stehe. Bedenklich ist für Nägele, der in seiner Rede auch kurz auf seine eigene Geschichte einging, daß für die jüdische Gemeinde neben der Modernisierung und der Erhaltung der Infrastruktur der Kampf gegen Intoleranz und Judenhaß zu einer immer größeren Herausforderung wird: Auch 75 Jahre nach der Shoah sei das jüdische Leben in Wien von Polizeischutz und hohen Mauern bestimmt. Fotos: Parlamentsdirektion / Thomas Jantzen Benjamin Nägele, Generalsekretär der Israelitischen Kultusgemeinde Wien Gerold Gruber, Leiter des Forschungszentrums exil.arte Keil: Auschwitz lehrt uns, nicht Gegenmensch, sondern Mitmensch zu sein Martha Keil, die Direktorin des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs im niederösterreichischen St. Pöl ten, stellte ihren Ausführungen ein Zitat von Siegfried Lenz voran: „Auschwitz ist uns anvertraut“. Wie jedoch könne man sich 75 Jahre nach der Befreiung des Lagers mit dem vertraut machen, was Auschwitz war, fragte sie. Sie knüpfte ihre Überlegungen dazu an die Be - griffe „Befreiung“ und „Vermittlung“. In einem historischen Exkurs zur Ge - schichte des Vernichtungslagers erinnerte sie daran, daß nur wenige tausend Häftlinge von Auschwitz-Birkenau tatsächlich den 27. Jänner 1945 als Tag ihrer Befreiung erleben konnten. Rund 1,1 Millionen Menschen wa - ren dort ermordet worden, und selbst von den wenigen Überlebenden starben viele aufgrund von Krankheit und schlechter Versorgung innerhalb weniger Tage. Tausende ka - men in diesen Tagen noch auf Todesmärschen und bei Mordaktionen der SS ums Leben. Zwar waren die Überlebenden aus Auschwitz befreit, aber nie von den Erinne- »Österreich Journal« – http://www.oesterreichjournal.at
ÖSTERREICH JOURNAL NR. 191 / 11. 03. 2020 Österreich, Europa und die Welt 9 rungen an die schrecklichen Erlebnisse und die erlittenen Qualen, gab die Rednerin zu be - denken. Diese Überlegung führte Keil zum Begriff der „Vermittlung“, die heute nicht mehr über ZeitzeugInnen erfolgen könne. Der Auschwitz-Überlebende Primo Levi hat - te die Problematik der Erinnerung an die Shoah mit den Worten zusammengefaßt: „Wir Überlebenden sind nicht nur eine verschwindend kleine, sondern auch eine anormale Minderheit. Wir sind die, die den tiefsten Abgrund nicht berührt haben. Die Un - tergegangenen sind die eigentlichen Zeugen.“ Die Erinnerung an die ungeheuren Dimensionen der Shoah sei mehr denn nötig, nachdem Auschwitz längst in der Popkultur angekommen sei, von fragwürdigen Computerspielen bis hin zu pseudohistorischen Filmen und Romanen, die ein verzerrtes Bild vermittelten. Keil erinnerte hier an einen weiteren Ausspruch von Primo Levi: „Ausch witz ist ge - schehen, daher kann es wieder geschehen.“ Bei allem Bemühen um Vermittlung und Verstehen bleibe für jede Generation aufs Neue die verstörende Frage, wie es dazu kom men konnte, sagte sie. Ein fruchtbarer Erklärungsansatz ist für sie eine Theorie aus der Umweltgeschichte, die Theorie der sogenannten „Shifting Baselines“. Solche schleichend sich verändernden Grundkoordinaten gebe es laut dem Sozialpsychologen Harald Welzer auch bei moralischen Grenzen, wie der Nationalsozialismus gezeigt habe. Während gleich nach Hitlers Machtergreifung Anfang 1933 ein Massenmord an der jüdischen Bevölkerung noch undenkbar gewesen wäre, so hätten Haßpropaganda, Erniedrigung und Beraubung die moralischen Martha Keil, Direktorin des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs Grenzen sukzessive verschoben, sodaß es kei - nen Protest gegen die Massendeportationen mehr gab, als diese im Februar 1941 begannen. Auch heute gebe es beinahe täglich solche „Shifting Baselines“, sagte Keil. Sexistische, antisemitische und rassistische Beleidigungen und Drohungen stellten für viele Menschen heute den – eigentlich unzumutbaren – Alltag dar. Wie der Sprachgebrauch in der Flüchtlingsfrage zeige, habe der „geistige Klimawandel“ bereits begonnen. „Was wäre damals den jüdischen Flüchtlingen wi - derfahren, hätten alle Staaten ihre Grenzen dichtgemacht?“, gab Keil zu bedenken. Sie wolle daher zum aktuellen Anlaß ein Wort für jene einlegen, die aktuell zu den Schwächsten der Gesellschaft zählen. „Wenn in Flüchtlingen nur mögliche Messerstecher und Vergewaltiger gesehen werden, wenn in Überlebenden der syrischen Foltergefängnis - se nur potentielle Attentäter gefürchtet werden, welchen Sinn hat unser Bemühen um Vermittlung der Shoah?“, fragte Keil und erinnerte daran, daß viele Überlebende der Shoah wie Leon Zelman als Flüchtlinge nach Österreich kamen. Für Keil stellt sich die Frage: „Wenn Be - richte von Auschwitz-Überlebenden zu Trä - nen rühren, wie können dann heute Flüchtlinge in ihre lebensgefährlichen Systeme zu - rückgeschickt werden?“ Was aus Auschwitz gelernt werden müsse, sei schließlich „nicht Gegenmensch, sondern Mitmensch zu sein. Menschen, die in Österreich Aufnahme finden, sind, wie alle bereits Einheimischen, nicht nur der Verfassung und den Gesetzen unserer Demokratie verpflichtet, sie erhalten auch Anteil an unserer Kultur und Bildung und an unserem kollektiven Gedächtnis. Fotos: Parlamentsdirektion / Thomas Jantzen Blick Richtung VeranstaltungsteilnehmerInnen, BundesministerInnen und BotschafterInnen mit Bundesrats- und Nationalratspräsidenten »Österreich Journal« – http://www.oesterreichjournal.at
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Foto: Andreas Marent / www.marent.i
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