ÖSTERREICH JOURNAL NR. 202 / 21. 03. 2022 Österreich, Europa und die Welt / PaN 76 Wachsende ukrainische Gemeinde In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahm die ukrainische Gemeinde in Wien an Zahl stark zu. Zu Beginn der 60er- Jahre erschien eine erste politisch-satirische Zeitschrift unter dem Titel „Strachopud“ („Die Vogelscheuche“). 1862 wurde die Kirchengemeinschaft zu St. Barbara als erster ukrainischer Verein in Wien gegründet, der übrigens bis heute besteht. 1868 erfolgte die Grün - dung des Studentenvereins „Sitsch“, der bis 1945 in den österreichischen Universitätsstädten Wien, Graz, Innsbruck und Leoben be stand. Zu seinen Gründern gehörte eine Reihe von später bekannten ukrainischen Wis - senschaftlern und Universitätsprofessoren, darunter der nachmalige Hofrat Prof. Jo hann Puluj, einer der Erfinder der „X‐Strahlen“, die später als „Röntgen‐Strahlen“ in die Me - dizin Eingang fanden. Gemeinsam mit Pantelejmon Kulisch übersetzte er in den 70er- Jahren des 19. Jahrhunderts in Wien die Bi - bel in die ukrainische Volkssprache. © Wikipedia / / CC-BY 4.0 / Österreichische Nationalbibliothek Der Erste Weltkrieg brachte eine große Flüchtlingswelle mit sich Ukrainer als ei genständiges Volk Die österreichische Verfassung gab den Ukrainern nicht nur die Chance, sich als ei - genständiges Volk zu bekennen, sondern auch durch ihre Abgeordneten, die Rechte und Freiheiten des ukrainischen Volkes im österreichischen Parlament zu vertreten. Ein weiteres positives Merkmal der österreichischen Herrschaft bestand darin, daß die Re gierung zur Erhaltung der Einheit des Staates und zur Lösung zwischennationaler Konflikte auch den ukrainischen Forderungen auf sozialem und kulturellem Gebiet entgegen kam. Auf diese Weise wurden in Österreich für die Ukra - iner bessere Bedingungen für ihre nationale, politische und kulturelle Entwick lung ge - schaffen, als dies im von Rußland beherrschten Teil der Ukraine der Fall war. Zu den be - deutendsten ukrainischen Abgeordneten im österreichischen Parlament zählten der spätere Präsident der Westukrainischen Volksrepublik Eugen Petruschewytsch, Kost Le - wyckyj, Mykola Wassylko, Jerotej Pihulak, Julian Romantschuk, Semen Wityk und Jacko Ostaptschuk. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts strömten Ukrainer in Scharen nach Wien, vor allem Arbeiter und Dienstpersonal, die dafür sorgten, daß die ukrainische Gemeinde im - mer größer wurde. Im Hinblick auf die zahlreichen in Wien lebenden ukrainischen Ar - beiter erfolgte 1896 die Gründung des ukrainischen Arbeitervereins „Rodyna“. Aber auch bekannte ukrainische Intellektuelle, Wissenschaftler und Kulturschaffende lebten damals für einige Zeit in Wien. Er - wähnt seien nur die wichtigsten, wie lwan Franko, der seine Dissertation an der Wiener Universität verteidigte und den Doktorgrad der Philosophie erwarb, der Begründer des modernen ukrainischen Theaters Les’ Kurbas, Lesja Ukrajinka und noch viele andere. Von großer politischer Bedeutung war nicht nur die Tätigkeit der ukrainischen Parlamentarier im österreichischen Reichsrat, sondern auch das Auftreten ukrainischer Parteien und das Wirken des von Emigranten aus der Dnipro-Ukraine gegründeten „Bundes zur Befreiung der Ukraine“, der in Wien eine breite propagandistische Tätigkeit für die Schaffung eines selbständigen ukrainischen Staates entfaltete. Bis zum Ersten Weltkrieg erschienen in Wien zahlreiche ukrainische Publikationen in ukrainischer und deutscher Sprache: Zeitschriften, Zeitungen, Bücher. Der Erste Weltkrieg brachte eine große Flüchtlingswelle mit sich. Allein durch das Lager Gmünd in Niederösterreich gingen 350.000 ukrainische Flüchtlinge. 30.000 von ihnen überlebten die Strapazen von Flucht und Vertreibung nicht und wurden auf dem Lagerfriedhof begraben. Die ukrainische Diaspora in Österreich hat im Jahr 1964 auf dem ehemaligen Lagerfriedhof in Gmünd ein Denkmal errichtet, das vom bekannten ukrainischen Bildhauer Hryhorij Kruk geschaffen worden ist. Die Ukrainische Volksrepublik und später die Hetman-Ukraine, der Zentralrat und die Sowjetukraine unterhielten zwischen 1918 und 1923 diplomatische Beziehungen zu Österreich. Auch die Westukrainische PaN – Partner aller Nationen – http://www.dachverband-pan.org/ Volksrepublik war mit einem Gesandten in Wien vertreten. Nach dem ersten Weltkrieg blieb Wien weiterhin ein Zentrum aktiver politischer und kultureller Tätigkeit ukrainischer Emigranten. Mychajlo Hruschewskyj kam in die ös - terreichische Hauptstadt, gründete hier das Ukrainische soziologische Institut und entwickelte eine rege publizistische Tätigkeit. Wolodymyr Wynnytschenko gab in Wien eine Wochenzeitung heraus. Die größte ukrainische Kolonie in der Hauptstadt des nunmehr kleinen Österreich bildeten jedoch die Emigranten aus Galizien. Nahezu die gesamte Regierung der Westukrainischen Volksrepublik war von hier aus bemüht, diplomatische Aktionen zu Gunsten der Anerkennung der Unabhängigkeit der Westukraine zu setzen, was jedoch misslang, da die Pariser Botschafterkonferenz Galizien endgültig Polen zusprach. 1921 wurde in Wien die Ukrainische Freie Universität ge - gründet, die später nach Prag übersiedelte und sich seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in München befindet. In der Zeit zwi - schen den beiden Weltkriegen lebten allein in Wien etwa 6.000 Ukrainer. Der Zweite Weltkrieg Mit dem „Anschluß“ Österreichs an das Deutsche Reich im Jahr 1938 begann für die Ukrainer in Österreich wiederum eine schwe - re Zeit. Alle Vereine wurden aufgelöst und es gab nur mehr die von den nationalsozialistischen Machthabern genehmigte Ukrainische Nationale Vereinigung und den Verband der Ukrainer Großdeutschlands. Zehntausende ukrainische Zwangsarbeiter wurden in die nunmehrige Ostmark gebracht. Tausende
ÖSTERREICH JOURNAL NR. 202 / 21. 03. 2022 Österreich, Europa und die Welt / PaN 77 © Wikipedia / / CC-BY 4.0 / Foto: Archiv ÖUG Bun deskanzler Franz Vranitzky ben der ukrainischen Gemeinde in Wien. Die ukrainische griechisch-katholische St. Barbara-Kirche in Wien wurde wieder zum geistigen und kulturellen Zentrum der Gemeinde, einer Diaspora, die sich in der Zeit des „Kalten Krieges“ und eines „Eisernen Vorhangs“, der Europa teilte, als die der früheren Heimat nächstgelegene Bastion des Ukrainertums betrachtete. Damals sahen wir es als unsere Aufgabe an, wahre Informa - tionen über die Geschichte und Kultur des ukrainischen Volkes zu verbreiten. Der unter der Leitung des bekannten, im Jahr 1995 verstorbenen, ukrainischen Komponisten Prof. Andrij Hnatyschyn stehende Kirchenchor zu St. Barbara wurde zu einem wahren Kulturträger des Ukrainertums. Der Österreichische Rundfunk übertrug seine Mes sen und Konzerte über den Äther nach ganz Europa, auch in die Ukraine. Der Ukrainische Briefmarken- Sammler-Verein in Österreich Der im Jahr 1967 gegründete Ukrainische Briefmarken-Sammler‐Verein in Österreich übernahm eine wichtige politische Rolle, die man einer solchen Organisation in keiner Wei se zutrauen würde. Durch seine guten Ver - bindungen zu österreichischen Regierungsstellen gelang es die Österreichische Post da - von zu überzeugen, bei Veranstaltungen des Vereins Sonderpoststempel mit ukra inischer Thematik und teilweise ukrainischer Be - schriftung zu verwenden. Bis zum heutigen Tag sind über 150 solcher österreichischer Sonderstempel erschienen, die dazu dienen, Informationen über die Geschichte, Kultur, Politik, Religion und das Brauchtum der Ukraine mit philatelistischen Mitteln zu verbreiten. Die hervorragenden Verbindungen der ukrainischen Vereine zu österreichischen Po - litikern tragen seit über drei Jahrzehnten da - zu bei, daß man in der österreichischen Öf - fentlichkeit über die Ukraine Bescheid weiß. Als sich zu Beginn der 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts die Situation in der Ukraine endlich zum Positiven entwickelte, haben wir nach der Verabschiedung der Souveränitätserklärung am 16. Juli 1990 sofort Kontakte zur Heimat unserer Eltern angeknüpft, im Konkreten zur „Ukraine‐Gesellschaft“ und zum „Ukrainischen Philatelistenverband“. Politische Beziehungen zum unabhängigen Staat Ukraine Österreich gehörte zu den ersten Staaten, die nach der Unabhängigkeitserklärung am 24. August 1991 sofort sogenannte „pro for - ma“ Beziehungen zur Ukraine aufnahmen. Das war nicht zuletzt dem Wirken der ukrainischen Gemeinde in Österreich zuzuschreiben. Die Regierung des den österreichischen Ukrainern sehr freundschaftlich gesinnten Bun deskanzlers Franz Vranitzky beschloß am 24. Jänner 1992 schließlich offizielle diplomatische Beziehungen zur Ukraine wieder aufzunehmen. Gründung der Österreichisch- Ukrainische Gesellschaft Einige Monate später, am 9. Juni 1992, gründeten wir die Österreichisch-Ukrainische Gesellschaft, die das Ziel verfolgt, die Be ziehungen zwischen Österreich und der Ukraine auf allen Gebieten, wie der Politik, Dr.h.c. Borys Jaminskyj, Gründer der ÖUG Ukra iner befanden sich im Konzentrationslager Mauthausen und seinem Nebenlager Ebensee. 1944 begann eine Flüchtlingswelle, die nahezu 100.000 Ukrainer nach Österreich brachte, von denen jedoch die meisten später nach Kanada und in die U.S.A. auswanderten. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Österreich von den vier Alliierten Mächten USA, Sowjetunion, England und Frankreich be setzt und das ukrainische Vereinsleben kam beinahe zum Stillstand. Erst der österreichische Staatsvertrag im Jahr 1955 und der da mit ver - bundene Abzug der Besatzungsmächte brachte wiederum einen Wendepunkt im Le - © Wikipedia / / CC-BY 4.0 / GuentherZ Gedenktafel für Andrij Hnatyschyn in der Wiener Postgasse 8a PaN – Partner aller Nationen – http://www.dachverband-pan.org/
Ausg. Nr. 202 • 21. März 2022 Da
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Foto: Universalmuseum Joanneum / J.
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